Claire Mathon
Preisträgerin des Jahres 2022
Ich war schon immer fasziniert von natürlichem Licht, von seiner Fülle und seinen endlosen Variationen. Es macht uns bescheiden. Wir müssen wissen, wie wir es einfangen und wie wir mit ihm arbeiten können. Einerseits ist es ein wundervolles Geschenk, andererseits ist es sehr schwer zu beherrschen. Es gibt etwas in diesem Licht, das mich besonders berührt. Die physikalische Welt ist wahrhaft inspirierend.
Claire Mathon, ‘Portrait of a Lady on Fire’ Cinematographer Claire Mathon’s Breakout Year. Von: Brendea July. In:
thecherrypicks.com (03. März 2020)
Claire Mathon wird 1975 in Frankreich geboren und studiert in den 1990er Jahren an der renommierten
Pariser Filmhochschule École Nationale Supérieure Louis-Lumière. Im Jahr 1998 macht sie dort ihren
Abschluss und arbeitet anschließend als Kameraassistentin und später als Kamerafrau für zahlreiche
Dokumentar-, Kurz- und Spielfilme. Sie entwickelt früh einen eigenen Stil und etabliert langfristige
Arbeitsbeziehungen zu anderen Filmschaffenden. Zunächst ist sie als Kameraassistentin bei
verschiedenen Videoclips tätig, debütiert jedoch bereits im Jahr 2000 mit dem Kurzfilm CHRISTMAS EVE
(2000) als Kamerafrau. Die ersten abendfüllenden Spielfilme dreht Mathon Mitte der 2000er Jahre. Bei
GRIS BLANC (2005) arbeitet sie als Kameraassistentin für ihre langjährige Freundin, die Kamerafrau Céline
Bozon, die sie seit den Vorbereitungskursen (Classe Préparatoire Ciné-Sup) zu ihrem Studium kennt.
Entgegen der gängigen Praxis, nach dem Studium gemeinsam mit anderen Absolventinnen und
Absolventen der Filmhochschule längere Zeit bei erfahrenen Kameraleuten praktische Erfahrung an
Filmsets zu sammeln, geht Mathon jedoch früh ihren eigenen Weg. Motiviert wird sie durch ihr Vorbild,
den französischen Kameramann Eric Gautier (u.a. INTO THE WILD, 2007), der ihr auf einen Brief antwortet,
den Sie ihm geschrieben hat: „Faire des images et les faire tout de suite. Aller vers ses propres goûts en
se laissant guider par son intuition. Se faire connaître pour ce qu’on fait“ (“Bilder machen, und sofort
damit anfangen. Den eigenen Geschmack finden, indem man sich von der eigenen Intuition leiten lässt.
Sich bekannt machen, für das was man macht.”).
Im Jahr 2004 entsteht mit MÉTAMORPHOSES D’UNE VILLE der erste Dokumentarfilm, bei dem Mathon als
Kamerafrau tätig ist, 2006 dreht sie den Spielfilm HOREZON und zudem PARDONNEZ-MOI, das Spielfilm-
Regiedebut der Schauspielerin und Drehbuchautorin Maïwenn Le Besco. Es entsteht eine enge
Freundschaft, die sich über viele Jahre erstreckt und die zwei weitere Filme hervorbringt. Unter
Maïwenns Regie arbeitet Mathon als Kameraoperatorin an LA POLISSE (2011) und später wieder als
Kamerafrau an MON ROI (2015).
Mit dem viel beachteten Film L’INCONNU DU LAC wird Mathon im Jahr 2013 zum ersten Mal für den
französischen César nominiert. Der Film hat für sie eine ganz außergewöhnliche Bedeutung: „[…] s’il ne
restait qu’un film ce serait L’Inconnu du lac, curieusement, c’est le film qui me ressemble le plus.“ („[…]
wenn es [in meiner Filmografie] nur einen Film gäbe, wäre es Der Fremde am See, interessanterweise
ist es der Film, der mir am ähnlichsten ist“). Offen und ehrlich ermöglicht Mathons Kameraarbeit in
diesem Film einen Einblick in die homosexuelle Crusing-Szene an einem See in Südfrankreich. Diese
Arbeit macht Filmschaffende, Kameraverbände, Filmfestivals und die internationale Filmkritik auf
Mathon aufmerksam. Es folgen weitere Nominierungen, unter anderem bei der nationalen
Filmauszeichnung Prix Lumières für die Filme LE DERNIER COUP DE MARTEAU (2014), MON ROI und LES DEUX
AMIS (2015).
Für die Filme ATLANTIQUE (2019) von Regisseurin Mati Diop und PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU (2019)
von Regisseurin Céline Sciamma, die 2019 beide um die Goldene Palme auf dem Internationalen
Filmfestival von Cannes konkurrieren, gewinnt sie schließlich ihre ersten größeren Auszeichnungen, etwa
den Preis der Los Angeles Film Critics Association und der National Society of Film Critics in den USA. Für
„PORTRAIT“ gewinnt sie außerdem den französischen César und den Prix Lumières für die beste
Kameraarbeit. Im Jahr 2021 folgt der Best Cinematography Award auf dem Internationalen Filmfestival
in San Sebastián. Claire Mathon hat in den letzten zwanzig Jahren über 60 Spiel- und Kurzfilme,
Dokumentationen und Videoclips als Kamerafrau gedreht. Ihre Kameraarbeit zeichnet sich durch eine
besondere Atmosphäre aus und durch eine große ästhetische Lebendigkeit. Die emotionale Wirkung des
Films kann in ihren Arbeiten geradezu haptisch verortet werden und ihre Bilder wirken daher oft
gleichermaßen ruhig wie kraftvoll. Filme wie L’INCONNU DU LAC, PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU und
ATLANTIQUE demonstrieren die Unerlässlichkeit audiovisueller Bildgestaltung für ein authentisches
Filmerleben.
Mathon scheint es für Dreharbeiten immer wieder an Gewässer und Küstenorte zu ziehen. Ihre Neugier
führt sie zu neuen Ufern und gibt ihr Verständnis für Umgebungen, die ihr zunächst unbekannt sind, wie
es etwa bei den Dreharbeiten zum Film ATLANTIQUE der Fall war, der im Senegal entstanden ist. Immer
wieder greift Mathon die Arbeitsweise des berühmten Kameramann Néstor Almendros auf, einer Schlü
sselfigur der französischen Nouvelle Vague, der zudem 1979 für den Film DAYS OF HEAVEN (1978) mit dem
Oscar für die beste Kameraarbeit ausgezeichnet wurde.
Néstor Almendros verzichtete in seinen Filmen weitgehend auf künstliches Licht und drehte die
Außenaufnahmen seiner Filme hauptsächlich in der Morgen- oder Abenddämmerung, also während der
sogenannten Blauen Stunde. Dies ist ein sehr zeitaufwendiges Verfahren, da sich die tatsächliche
Drehzeit dadurch auf maximal eine Stunde pro Tag beschränkt. Über ihre eigene Arbeit als Kamerafrau
erzählt Mathon bei AFCinema: „Il fallait être tout à la fois un technicien ingénieux, un sportif endurant
et un artiste sensible. Être capable de moments d’inactivité et de solitude tout aussi bien que de se
fondre étroitement et pendant de longues semaines dans un groupe. Tout cela formait des perspectives
exaltantes.“ („Man muss gleichzeitig ein geschickter Techniker, ein Ausdauersportler und ein
einfühlsamer Künstler sein. Es genauso vermögen, für sich allein und passiv zu bleiben, wie komplett für
mehrere Wochen in einer Gruppe aufzugehen. All dies führte zu Perspektiven, die Begeisterung
auslösen.”)
Für sie ist die Kamera wie ein Pinsel, der über den Filmen schweben müsse und eine Ästhetik des
Schönen und Reinen auffange. Eine Ästhetik, die sich mit malerischen Kulissen vereine. „Je fais des films
pour aller vers l’inconnu, pour aller vers des continents que je ne connais pas.” („Ich drehe Filme um
Neues zu entdecken, um zu Kontinenten vorzustoßen, die ich nicht kenne.“)
Im Jahr 2021 arbeitete Claire Mathon unter anderem an PETITE MAMAN (2021) von Regisseurin Céline
Sciamma, an ENQUÊTE SUR UN SCANDALE D’ÉTAT (2021) von Regisseur Thierry de Peretti und an SPENCER
(2021) von Regisseur Pablo Larraín mit Kristen Stewart in der Hauptrolle, der im Januar 2022 in den
deutschen Kinos gestartet ist.
Kein Wort (2023)
Regie: Hanna Antonina Wojcik Slak
Un coeur perdu et autres rêves de Beyrouth (2023)
Regie: Maya Abdul- Malak
Une fleur á la bouche | A Flower in the Mouth (2022)
Regie: Eric Baudelaire
Saint Omer (2022)
Regie: Alice Diop
Enquête sur un scandale d’État (2021)
Regie: Thierry de Peretti
Spencer (2021)
Regie: Pablo Larraín
Petite maman – Als wir Kinder waren (2021)
Regie: Céline Sciamma
Dustin (2020, Short)
Regie: Naïla Guiguet
Un Film Dramatique (2019, Dokumentarfilm)
Regie: Eric Baudelaire
Carte de visite (2019)
Regie: Michel Zumpf
Portrait de la jeune fille en feu | Porträt einer jungen Frau in Flammen (2019)
Regie: Céline Sciamma
Atlantique (2019)
Regie: Mati Diop
Raoul Taburin | Das Geheimnis des Fahrradhändlers (2018)
Regie: Pierre Godeau
Ondes de choch (2018, TV Serie, 1 Episode)
– La Vallée, Flucht in die Berge (2018)
Regie: Jean-Stéphane Bron
Nul homme n’est une île (2017, Dokumentarfilm)
Regie: Dominique Marchais
Le géographe manuel II – Socrate pour prendre congé (2017)
Regie: Michel Zumpf
Also Known as Jihadi (2017, Dokumentarfilm)
Regie: Eric Baudelaire
Une vie violente | Ein gefährliches Leben (2017)
Regie: Thierry de Peretti
La fureur de voir (2017, Dokumentarfilm)
Regie: Manuel von Stürler
Médée (2017, Short)
Regie: Mikael Buch
Rester Vertical | Haltung Bewahren! (2016)
Regie: Alain Guiraudie
Makhdoumin (2016, Dokumentarfilm)
Regie: Maher Abi Samra
Le fils étranger | The foreign son (2015, Dokumentarfilm)
Regie: Abdallah Badis
Des hommes debout | Standing Men (2015, Dokumentarfilm)
Regie: Maya Abdul-Malak
Comme un avion | Nur Fliegen ist schöner (2015)
Regie: Bruno Podalydès
Les deux amis | Zwei Freunde (2015)
Regie: Louis Garrel
Mon roi | Mein ein, mein alles (2015)
Regie: Maïwenn Le Besco
Le dernier coup de marteau (2014)
Regie: Alix Delaporte
Poisson (2014, Short)
Regie: Aurélien Vernhes-Lermusiaux
T.W.E (2014, Short)
Regie: Itvan Kebadian
La ligne de partage des eaux | Die Loire, Lebensader Frankreichs (2013, Dokumentarfilm)
Regie: Dominique Marchais
The Ugly One (2013)
Regie: Eric Baudelaire
L’inconnu du lac | Der Fremde am See (2013)
Regie: Alain Guiraudie
Trois mondes | Three Worlds (2012)
Regie: Catherine Corsini
On remuait les lèvres mais on ne disait rien (2012, Dokumentarfilm)
Regie: Gabrielle Schaff
ABCDEFGHIJKLMNOP(Q)RSTUVWXYz (2012, Dokumentarfilm, Short)
Regie: Valérie Mréjen, Bertrand Schefer
Exercice de fascination au milieu de la foule (2011, Dokumentarfilm, Short)
Regie: Valérie Mréjen, Bertrand Schefer
En ville | Iris Bloom (2011)
Regie: Valérie Mréjen, Bertrand Schefer
L’imprésario (2011, Short)
Regie: Serge Bozon
La piqûre (2011, Short)
Regie: Paul Saintillan
Ich bin eine Terroristin (2010)
Regie: Valérie Gaudissart
Sheoeyin Kenna (2010, Dokumentarfilm)
Regie: Maher Abi Samra
Angèle et Tony | Angèle und Tony (2010)
Regie: Alix Delaporte
Le chemin noir (2010, Dokumentarfilm)
Regie: Abdallah Badis
L’échappée belle (2009, Short)
Regie: François Tessier
Plein sud | Plein Sud – Auf dem Weg nach Süden (2009)
Regie: Sébastien Lifshitz
Action = militantes | Handeln = Aktivistinnen (2009, TV Dokumentarfilm, Short)
Regie: Valérie Mréjen
La vie au ranch (2009)
Regie: Sophie Letourneur
Lulô Kanda (2009, TV Dokumentarfilm, Short)
Regie: Lola Frederich
French Courvoisier (2009, Short)
Regie: Valérie Mréjen
La reine des pommes | Queen of Hearts (2009)
Regie: Valérie Donzelli
Baïnes (2008, Short)
Regie: Salomé Stévenin
Modus Vivendi (2008, Short)
Regie: Philippe Chapuis
La résidence ylang ylang (2008, Short)
Regie: Hachimiya Ahamada
Taxi wala (2008, Short)
Regie: Lola Frederich
Tel père telle fille (2008, Short)
Regie: Sylvie Ballyot
Entracte (2007, Short)
Regie: Yann Gonzalez
Les hommes sans gravité (2007, Short)
Regie: Éléonore Weber
Pardonnez-moi | Verzeiht mir (2006)
Regie: Maïwenn Besco
Comment on freine dans une descente? (2006, Short)
Regie: Alix Delaporte
Horezon (2006)
Regie: Pascale Bodet
Cauchemar du perdeur de clés (2006, Short)
Regie: Paul Saintillan
Le petit chevalier (2005, Short)
Regie: Sami Lorentz
Saison (2005, Short)
Regie: Julien Sallé
Moloch, les chairs vives (2005, Short)
Regie: Nicolas Namur
L’étrangère (2004, Short)
Regie: Nicolas Namur
Métamorphoses d’une ville (2004, Dokumentarfilm)
Regie: Philippe Chapuis
Ça fait mal à mon coeur (2004, Short)
Regie: Stéphanie Noël
La Femme qui a vu l’Ours (2003, Short)
Regie: Stéphane Cabel, Patrice Carré
Leila (2003, Short)
Regie: Ian Dodds, Jean-Cyril Rossier
Sans regrets (2002, Short)
Regie: Christophe Devauchelle, Stéphane Kneubuhler
La fourmi amoureuse (2002, Short)
Regie: José Hernandez
L’impatience (2001, Short)
Regie: Sébastien de Fonseca
Le chemin de traverse (2001, Short)
Regie: Marina Deak
Christmas Eve (2000, Short)
Regie: Arnault Labaronne
So spektakulär wie Claire Mathon ist selten eine Kameraperson in das Bewusstsein einer breiten
filminteressierten Öffentlichkeit getreten: Die beiden von ihr fotografierten Filme PORTRAIT DE LA
JEUNE FILLE EN FEU (2019, R: Céline Sciamma) und ATLANTIQUE (2019, R: Mati Diop) wurden im gleichen
Jahr in den Wettbewerb von Cannes eingeladen und dort prämiert. Es folgten zahlreiche
Nominierungen und Auszeichnungen für Mathons Kameraarbeit, weitere internationale Arbeiten
mit bekannten Regisseuren wie Pablo Larraín (aktuell im Kino: SPENCER, 2021), und als bisheriger
Höhepunkt von Mathons vergleichsweise junger Karriere der Preis für die beste Kinematografie auf
dem Internationalen Filmfestival von San Sebastián im September 2021 für den Film ENQUÊTE SUR
UN SCANDALE D’ÉTAT (2021, R: Thierry de Peretti).
Die inzwischen vielfach gewürdigte Könnerschaft Claire Mathons speist sich aus einer eindrucksvollen
Reihe von Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilmen, mit denen sie in den letzten rund fünfzehn Jahren
zu einem Stammgast des internationalen Festivalbetriebs und der Arthouse-Kinos geworden ist.
PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU und ATLANTIQUE wirken wie ein Brennglas, in dem die thematischen
Vorlieben und Arbeitsweisen dieser Kamerafrau gebündelt betrachtet werden können. Ebenso wie
diese dezidiert feministischen Filme hat Claire Mathon mit ihrer Kamera und in Zusammenarbeit
mit Regisseurinnen wie Valérie Donzelli, Maïwenn und Sophie Letourneur in den vergangenen
Jahren weibliche Perspektiven eingenommen und ergründet (LA REINE DES POMMES und LA VIE AU
RANCH, beide 2009, MON ROI, 2015). Zudem hat sie immer wieder aufregende Bilder für queere
Beziehungen gefunden, seien es die Annäherungen zwischen Sam und Mathieu in PLEIN SUD (2009),
das Portrait der homosexuellen Cruising-Szene in L’INCONNU DU LAC (2013) oder die
unkonventionellen sexuellen Konstellationen in RESTER VERTICAL (2016).
Gerade in den Filmen von Alain Guiraudie wird deutlich, dass Mathon keine Scheu hat, die oft nackten
und sexuell aktiven Körpern von Schauspielerinnen und Schauspielern in übersichtlichen Totalen
ebenso wie in bildfüllenden Close-Ups zu zeigen. In dieser neugierigen Direktheit lassen Mathons
Bilder die Unterscheidung zwischen Pornografie und Naturalismus irrelevant werden, denn die
Annäherung erfolgt gleichzeitig behutsam und ist in Erzählungen eingebettet, in denen das
Ausleben einer nicht-normativen Sexualität einfühlsam thematisiert wird. Mathon präsentiert die
Körper immer wieder in eindrucksvollen und ebenso neugierig erkundeten Landschaften. Oft
handelt es sich dabei um ikonografische Aufnahmen aus dem Süden Frankreichs, vor allem das
Meer oder diverse Seen und Flüsse.
Nicht selten richtet Mathon ihre Kamera auch auf Drehorte in anderen Ländern. So ist die
Zombiegeschichte ATLANTIQUE auch ein Portrait der Stadt Dakar im Senegal, und die post-koloniale
Perspektive, aus der heraus der Film erzählt, wird durch Mathons Interesse bereichert, ihre eigene
Welt zu verlassen und in andere Welten, Länder und Sprachen einzutauchen. Damit fordert Mathon
nicht zuletzt jedes Mal neu ihre eigenen Fertigkeiten als Kamerafrau heraus und stößt
Arbeitsprozesse an, die es ihr ermöglichen, die visuelle Sprache des Kinos um ungewöhnliche Bilder
und bisher wenig sichtbare Facetten zu bereichern. Immer wieder kehrt sie dafür in den Libanon
zurück, wo unter anderem die eindrucksvollen dokumentarischen Arbeiten SHEOEYIN KENNA (2010)
und MAKHDOUMIN (2017) und der Spielfilm THE UGLY ONE (2013) entstanden sind.
Der Anspruch Mathons, die visuellen Möglichkeiten des Kinos zu reflektieren, und es um neue Facetten
und Perspektiven zu erweitern, tritt in PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU besonders deutlich hervor,
weil der gesamte Film als eine Reflexion von Visualität und der Herstellung von Bildern angelegt ist.
Unter der Regie von Céline Sciamma nimmt sich Mathons Kamera viel Zeit dafür, nicht nur den
technischen und künstlerischen Aufwand der Bildproduktion zu erforschen, sondern auch der
Emotionalität der Bildkünstlerin nachzuspüren und davon zu berichten, wie gefährlich es sein kann,
sich ein Bild von einer anderen Person zu machen. Wie nebenbei erzählen diese Kinobilder, die vom
Stil alter Meister inspiriert zu sein scheinen, auch davon, dass die angestrebte Schönheit eines
Bildes nie allein ein Selbstzweck ist. Gemälde sind hier der Ausdruck einer tiefen und authentischen
Verbindung, sie sagen mehr als Worte und fungieren als Sammelpunkte der Erinnerung. Eine
überzeugendere und komplexere Poetik der Bildproduktion ist im Kinofilm der letzten Jahre nicht
zu finden.
Claire Mathon hat ihre Karriere trotz der inzwischen weltweiten Anerkennung nicht auf
Großproduktionen in Hollywood ausgerichtet. Nach ihrer Arbeit mit Kristen Stewart an der
internationalen Produktion SPENCER (2021) hat sie sich für das Spielfilmprojekt einer jungen
deutsch-slowenischen Regisseurin entschieden und für einen weiteren Dokumentarfilm mit
kleinem Budget, die beide weder in den USA noch in Frankreich entstehen werden. Gerade dieses
Interesse am Erforschen unbekannter Welten und Arbeitsbedingungen und der souveräne Umgang
mit den Verlockungen des Erfolgs lassen darauf hoffen, dass es auch in den nächsten Jahren noch
viele aufregende, reflektierte, schöne und politisch relevante Bilder von Claire Mathon zu sehen
geben wird. Wir verleihen ihr den Marburger Kamerapreis daher zum einen für das exzellente und
überaus eindrucksvolle Werk der letzten fünfzehn Jahre, zum anderen aber auch als Ermutigung
dafür, diesem von ihr so souverän beschrittenen Weg künftig ebenso entschlossen weiter zu folgen.